Vollmond 

Die Stadt, düster und leer. Nur ein einziger Lichtpunkt. Der Vollmond! Die Stadt liegt in tiefem Schlaf. Die Blätter im nahe liegenden Wald rauschen im Wind.

Doch da ertönt ein Jaulen. Ein so unheimlich trauriges und grauenhaftes Geräusch, dass der Wind verstummt. Nichts rührt sich. Selbst die Zeit scheint still zu stehen. Die Turmuhr schlägt zwölf. Mitternacht! Die Zeit des Werwolfs. Wieder dieses Jaulen. Und einem gefriert das Blut in den Adern. Das Heulen klingt so traurig. Er ist allein. Der letzte seiner Art. Von den Bürgern der Stadt gejagt. Plötzlich erstrahlt der Weg zum Wald in einem Lichtermeer aus Fackeln. Es ist soweit. Die letzte Stunde. Die letzten Minuten der Einsamkeit und des Schmerzes. Sie kommen um ihn zu töten. Endlich erlöst von dieser schrecklichen Qual. Bereit für den letzten Schmerz steht er ganz allein auf der Wiese. Ein letztes mal den Geschmack von warmem Blut  und rohem Schafsfleisch. Nun sieht er die Fackeln. Den Vollmond im Rücken steht er erwartungsvoll da und wartet auf die Menschenschar. Von weitem sind schon ihre Rufe zu hören. Er schaudert. Will er wirklich sterben? Nur noch wenige Meter trennen ihn von den tödlichen Spitzen der Forken. Er bekommt Angst. Er hat Angst vor den Schmerzen.

Sie sind da! Eine Gruppe von 50-60 Männern und ein paar Frauen. Und nun kann er verstehen was sie sagen. Beschimpfungen, Kindernamen, Zahlen von Tieren die er gerissen hat. Auf einmal bricht aus der Menge ein Mann hervor. Hoch gewachsen aber dünn. Er rennt schreiend, mit einer Axt bewaffnet auf den Werwolf zu. Da überwiegt der Werwolfinstinkt. Er will nicht sterben. Zumindest nicht jetzt und nicht so. Wut schäumt in ihm auf. Noch drei Meter bis der Mann ihn erreicht. Der Werwolf richtet sich auf und der Mann bleibt stehen. Alle sind stumm. Nur das Hecheln des Werwolfs ist zu hören. Wieder lässt er sein grauenhaftes Heulen ertönen. Nun bekommt der Mann angst. Er weicht langsam und stockend zurück. Doch in dem Moment stürzt sich der Werwolf auf ihn. Ein Schrei und ein lautes knacken und platschen ertönt. Der Mann steht nur still da. Ca. einen halben Meter dahinter der Werwolf. Ein letztes zwinkern und der Mann bricht rückwärts in sich zusammen. In der silbergrauen Pranke liegt die halbe Wirbelsäule. Wieder ein Mord. Wieder nur aus Instinkt gehandelt.

Doch nun greifen die anderen an. Mit Fackeln, Äxten, Forken, Knüppeln und Gewehren rücken sie langsam vor. Immer näher. Immer näher. Immer näher. Näher rückt der Tod. Der Werwolf weicht mit einem großen Satz zurück. Doch sie gehen weiter. Die ersten gehen bei Seite, legen die Gewehre an und zielen. Der erste Schuss... der zweite... der dritte. Insgesamt zwölf Schüsse fallen. Er jault auf. Eine Kugel hat ihm die linke Schulter durchbohrt. Sich krümmend vor Schmerzen drückt er auf die Wund. Sie rufen wieder die Kindernamen. Der Abschreckreflex in ihm wird wach. Er knurrt  und fletscht die Zähne. Einige werden langsamer, andere bleiben ganz stehen. Sie haben Angst.

Der Geruch von Schweiß, Wut, Angst, und Blut reizt ihn immer mehr. Er kämpft dagegen an, doch er weiß: das Biest ist stärker!

 

Unbemerkt von allen taucht ein kleiner Schatten vor dem, immer weiter steigenden Vollmond auf. Er wird langsam größer. Ein vollkommen schwarzer Schatten. Es scheint als ob er direkt aus dem Mond geschnitten wäre. Kurz bevor er bemerkt werden kann taucht er ab in den Schutz der Bäume am Waldrand. Der Wind frischt wieder auf. Wellen jagen über die Wiesen. Ein zwei Fackeln erlöschen. Der Schatten huscht an der Gruppe vorbei. Ganz hinten steht eine Frau im siebten Monat schwanger. Ihre Fackel fällt zu Boden und erlöscht. Ein stummer Schrei hängt auf ihrem Gesicht fest. Sie fällt auf die Knie und kippt mit blutüberströmtem Hals und Dekortee vorn über. Die anderen Frauen und Männer, die stehen geblieben sind drehen sich um. Eine Frau fällt sofort in Ohnmacht und zwei andere kreischen in höchster Panik. Fassungslos bleiben die anderen stehen. Da liegt sie im Schein ihrer eigenen Fackel. Das Gesicht krampfhaft verzogen. Ihre Sachen Blutdurchtränkt. In ihrem Hals zwei große klaffende Löcher, die nach hinten aufgeschnitten sind. Als ob ihr jemand im Sprint eine einfach gegabelte Forke in den Hals gerammt und seitlich wieder heraus gerissen hätte. Alle sind still. Selbst der mittlerweile vergessene Werwolf steht hungrig aber ruhig da. Die Menschen bilden einen Schutzkreis. Der Wind wird stärker. Da tritt ein mittelgroßer Mann mit schwarzem Samtmantel in den Schein der Fackeln. In den Armen hält er die Frau, die eben noch auf der Wiese lag. Ein Schauer läuft durch die Menge. Sogar der Werwolf wird unruhig.

Er muss hier weg. Dieser Mann! Er weiß wer das ist. Sein Erzfeind. Ein breites Grinsen legt sich über das Gesicht des Mannes. Seine strahlend weißen Zähne blitzen im Mondschein. Wieder Schreie der Frauen. Auch sie wissen nun wer dieser Mann ist. Der schwarze Samtmantel, die Frau und die übergroßen Eckzähne. Den Fangzähnen des Werwolfs gleich. Er ist der neue Anführer des Geschlechts Dracul, dem Herrn aller Vampire.

Nun steht er ungefähr im gleichen abstand zu den Leuten wie der Werwolf. Die Luft ist jetzt voll vom Geruch der angstschweißnassen Körper, von Blut und von einem fremdartigen surren wie von Flügelschlägen. Über dem Wald tauchen weiter sieben bis zehn Schatten auf. Über der ängstlich zusammenzuckenden Menschenmasse kreisend, stoßen immer wieder Vampire herab und ziehen ihre Opfer in die Luft um sie auszusaugen. Überall fallen lehre, bleiche Leichenreste in die Menge zurück. Aus Angst um ihr Leben, wehren sich die Bewohner der Stadt, die bis dahin bereits 20,25,30 Einwohner verloren hat. Durch die Menge, den Schreien der Vampire und Menschen, den Schüssen der Gewehre und das Knacken und Platschen der zerfetzenden Körper starren sich Ricardo und Lohbus an. Sie sehen nur die Augen des anderen.

Mit ruhigem Schritt geht Ricardo auf den Werwolf zu. Keine Leichen, kein Zwinkern. Nichts unterbricht ihren Blickkontakt. Lohbus steht ruhig da. Doch als Ricardo die Frau ins Gras rutschen lässt, setzt Lohbus auf ihn los. Durch die Menge. Alles was ihm im Weg ist wird zerfetzt. Er knickt weg. Rappelt sich aber, bevor er auf dem Boden aufschlägt, wieder auf. Trotz der Forke in der Wade hetzt er weiter. Er will dem Vampirlord keine Chance geben anzugreifen. Aus der Menge raus. Ein Schuss verfehlt ihn nur knapp und landet im Oberschenkel Ricardos. Noch zwei Meter. Abrupt bleibt Lohbus stehen. Durch den plötzlichen Stop schiebt sich die Forke noch weiter in seine Wade.

Der letzte der Vampirtruppe sinkt zu Boden und der letzte Mann fällt mit dem Rücken auf den Stiel einer, senkrecht in der Erde steckende Forke. Nur noch Ricardo und Lohbus.

Alte Erzfeinde. Der Wind nimmt noch weiter zu. Die Wellen auf der Wiese werden immer stärker und mehr. Um sie herum Stürmt es, doch in ihnen ist es still. Warum das Jahrhunderte lange Morden? Nur aus Blutrache? Wer hat damit begonnen und wieso? Niemand weiß es! Die Turmuhr aus der Ferne schlägt halb vier. Ein leises Wimmern wird hörbar. Der Gestank von brennendem Haar und glühendem Fleisch steigt ihnen in die Nase.

Eine Wolke verdunkelt für kurze Zeit den Vollmond. Das Wimmern wird lauter. Als die Wolke sich verzogen hat erscheint ein kleines Kind auf dem Weg von der Stadt zum Wald. Weinend und nach ihrer Mutter rufend steht das etwa sechs Jahre alte Mädchen da. Beim Anblick der vielen Leichen verstummt die Kleine. Mit irrem Blick und versteiften Gliedmaßen steht sie wie zu Stein geworden da. Unbemerkt von den Beiden geht das Mädchen auf die teilweise brennenden Überreste der Kämpfenden zu. Bei ihrer Mutter fällt sie auf die Knie. Die blutleeren Überreste des Kopfes sind mit einer vierzahnigen Forke durchbohrt. Verzweifelte Wut überkommt sie. Der Wahnsinn nimmt überhand. Sie steht auf, dreht sich zu den zwei Gruselgestalten um und nimmt ihrem zerstückeltem Nachbar das Gewehr aus der Hand. In dem Moment als sie abdrücken will, schnellt Ricardo hervor, reist die Forke aus Lohbus Wade und rammt sie dem Mädchen durch Magen und Wirbelsäule. Er hebt sie hoch und schleudert sie über die Toten hinweg. Die Kleine landet neben dem Mann, dem der Werwolf zuvor noch die Wirbelsäule herausgerissen hatte.

Diesen Moment der Unachtsamkeit nutzt der Werwolf aus und flieht in Richtung Wald. Doch Ricardo ist schneller. Er holt ihn ein. Im Vorbeifliegen legt er seinen Mantel um Lohbus silbergrauen Pelz. Sie stehen sich direkt gegenüber. Verhüllt vom schwarzen Samt.

Der Vollmond steht nun hoch über den silbernen Wipfeln der Bäume. Der Wind jagt weiter Wellen über die Wiesen. Die Fackeln sind fast alle erloschen. Die Überreste des Kampfes liegen glühend auf einem graslosen Fleck. Lohbus und Ricardo stehen ungefähr fünf Meter davon entfernt und sehen sich unverwegt an. Der Bluthunger Lohbus´ ist versiegt.

Der gewohnte Hass Ricardos ist verschwunden. Sie sind die Letzten ihrer Art. Ricardo, der letzte Vampir, Nachfahre Draculs und Lohbus, der letzte Werwolf, Sohn Lunas. Keiner der Beiden wagt es zu zwinkern. Selbst ihr Atem steht still. Nach einer scheinbaren Ewigkeit hebt Lohbus den linken Arm. Im gleichen Moment tut Ricardo das Gleiche und ein gewaltiges Donnergrollen durchbricht die Stille. Sie stehen nur da. Der zerzauste Pelz Lohbus schmiegt sich wie eine zweite Haut an ihn. Ricardos kaltes Blut wird warm und sein kaltes Herz schlägt. Das erste mal seit über zehntausend Jahren. In einer ewigen Umarmung stehen sie auf der Wiese. Die Turmuhr schlägt sechs. Der Mond verblasst. Die Sonne steigt über der Stadt auf. Die warmen Strahlen durchdringen den schwarzen Samtmantel. Ein Letzter Blick. Ricardos Umhang rutscht ihnen von den Schultern. Sie stehen nur da. Der Krieg zwischen Vampiren und Werwölfen ist aus. Die letzten Minuten sind vorbei. An der Stelle bleibt ein Häufchen Asche zurück, ein schwarzes Herz und eine silbergraue Pranke. Bis auf den Gestank der immer noch glühenden Leichenteile ist es ein ganz normaler Spätsommermorgen.

Und die Sonne scheint über das Land!

gez.:R.„F.A.“H.