Irrlicht
Klamm und fahl stieg der Morgen über den Kiefernwipfeln auf.
Frank saß mit dem Rücken an einem großen Turm gelehnt und beobachtete den Nebel zwischen den Bäumen. In seinem Schoß lag Lillit. Sie war ihm sonderbar erschienen, als er sie vor wenigen Stunden das erste mal gesehen hatte. Und auch jetzt hatte sie nichts von dieser Merkwürdigkeit verloren. In ihrem Haar setzten sich matt-silbrige Tautropfen ab und mit jedem ihrerAtemzüge wurden neue Nebelschwaden in den Wald gehaucht. Frank saß da, tief versunken in den gebilden des Nebels und der Bäume und dachte an die letzten Stunden zurück. Wieso war das alles geschehen? Aber noch viel wichtiger war die Frage, was war geschehen?
Jeden Abend ging Frank in das Wirtshaus "Zum weißen Hirsch" um den harten Arbeitstag im Wald hinter sich lassen zu können. Hier traf er oft auf die anderen Holzfäller, mit denen er tagsüber zusammen arbeitete. Doch konnte und wollte er ihnen jetzt aus dem Weg gehen. Er setzte sich in eine dunkle Ecke und feuerte seine Pfeife. Ohne ein Wort zu sagen brachte ihm die Wirtin einen Krug Bier und das Tagesgericht. Heute servierte sie Rotkohl und Hasenbraten. Frank legte die Pfeife in ein Astloch der Tischplatte, nahm einen kräftigen Schluck und begann zu essen.
Er blieb meist nur zum Essen und ging dann wieder. Doch an diesem Abend hielt ihn etwas davon ab. Ehe er es wirklich bemerkte war er allein im Wirtshaus. Nur der Wirt stand noch an der Küchentür, putzte ein paar Gläser und sah schläfrig zum Fenster hinaus. Frank wollte gerade aufstehen als die Tür, vom Wind und Regen gepeitscht aufschlug und jemand die Wirtsstube betrat. Der Wirt grüßte und fragte nach dem Begehr des Mannes, der mit langem Mantel und Hut dort im Rahmen stand. Keine Antwort! Der Wirt wiederholte sich, nun etwas energischer, bekam jedoch auch diesmal keine Antwort. Achselzuckend verschwand der Wirt in der Küche. Der Fremde kam auf Frank zu. Er setzte sich neben ihn und schob ihm einen Umschlag über den Tisch. Frank stutzte kurz über den seltsamen Mann, dessen Gesicht von der breiten Hutkrempe verdeckt wurde, dann brach er das Siegel und nahm ein Blatt Papier heraus. In einer ziehrlichen, zitternden Schrift waren Worte in einer ihm unbekannten Sprache festgehalten worden. Fragend sah er zu dem Fremden auf und schreckte zusammen. Der Fremde hatte Hut und Mantel abgelegt und sah Frank eindringlich an. Frank hatte ihn mit Sicherheit noch nie gesehen und doch kam ihm der Alte bekannt vor. Frank wollte gerade zu einer Frage ansetzten. "Mein Name tut nichts zur Sache. Ich bin hier um Eure Dienste in Anspruch zu nehmen werter Herr. Meine Tochter ist verschwunden. Seither streife ich durch die Wälder ringsum. Ihr kennt Euch in diesen Wäldern aus und könnt mir sicher gute Dienste Leisten. Um Euren Lohn verschwendet keinen Gedanken. Ihr werdet mehr als genügend für Eure Hilfe erhalten. Ich würd Euch nun bitten wollen mir zu folgen." Der Alte hatte eine wunderlich junge Stimme und auch seine Augen hatten noch jenen jugendlichen Glanz, der auch den Burschen im Sägewerk anhaftete. Wäre da nicht das aschgraue Haar und die tiefen Falten könnte man meinen, der Alte wäre kaum älter als die Tochter des Wirts. "Warum setzt Ihr Euch ausgerechnet zu mir und was soll dieser Brief?" gab Frank zurück. "Es gibt andere Holzfäller hier die um manches stärker sind als ich es bin." Frank wunderte sich eigendlich nicht sonderlich darum, doch wusste er nichts besseres zur Antwort zu geben. "Ihr scheint Euch nichts um die Gerüchte zu machen, die hier zu Lande gern an Kaminen und Lagerfeuern erzählt werden. Zuletzt sah ich meine Tochter tief im Wald. Hier nennt man das Gebiet dort wohl "Gefatters Wiesen"." "Ihr sprecht vom Sensenmoor. Nun verstehe ich warum niemand sonst Euch helfen wollte. Viel Leid und Angst haben die Nebel aus dem Moor über dieses Dorf gebracht. Weder Mensch noch Tier betritt dieses Gebiet. Nichteinmal die Vögel fliegen darüber hinweg. Warum sollte ich Euch also dorthin begleiten, wo Eure Tochter wahrlich längst tot sein könnte?" "Der Brief meiner Tochter den ihr dort habt", antwortete der Alte. "Ich fand ihn in einem alten Baum. Er ist an Euch gerichtet" "Doch kann ich ihn nicht lesen", warf Frank ein. "Ich bin sicher Ihr könnt mir dennoch behilflich sein."
Das gleiche seltsame Gefühl, dass Frank zum Bleiben verleitet hatte ließ ihn nun dem Alten folgen. Es war noch nicht spät, aber der Herbst vertrieb das Licht von Tag zu Tag früher. Und so schien ihm es, als hätte er die halbe Nacht im Weißen Hirsch verbracht.
Ihr Weg führte die beiden über einen Feldweg direkt zum Waldrand und dort auf einen schmalen Trampelpfad. Der hohe, lichte Kiefernwald war hier offensichtlich noch von niemandem bewirtschaftet worden. Denn weder Unterholz noch Pfad schienen je von einem Menschen berührt worden zu sein. Dafür war es hier zu ruhig und in Frank kroch wieder jenes seltsame Gefühl empor. Auch, wenn man kaum die Hand vor Augen sah, bemerkte er wohl, dass der Nebel sich immer weiter verdichtete, je weiter sie gingen. Er schien gar alles ringsumher zu verschlucken. Selbst die Schritte wurden immer leiser und verstummten alsbald gänzlich.
Nach einer ganzen Weile nun erreichten die zwei eine geborstene, vertrocknete Buche. Der Alte tippte auf Franks Tasche und sprach: "Hier habe ich den Brief meiner Tochter gefunden." "Doch weiß ich immernoch nicht was sie schrieb", antwortete Frank. "Dann ließ ihn noch einmal" gab der Alte zurück und reichte Frank einen kleinen Lederbeutel. "Das ist Pfeifenkraut. Es bringt mehr Licht als das Eure damit Ihr in dieser Finsternis etwas sehen könnt." Frank tat, wie ihm geheißen und feuerte seine Pfeife mit dem würzig riechenden Kraut. Es glimmte kaumt merklich auf und doch riss der Nebel um sie herum sofort auf. Frank verfolgte eine der Rauchwolken auf ihrem Weg gen Himmel und sah erstaunt, wie sich kurz darauf die Wolken auf taten und der Mond sein silbern-kaltes Licht auf das Papier fallen ließ. Frank sah hinab und war erstaunt, als er nun doch die zarte Schrift lesen konnte.
"Wenn Licht sich erhebt in finsterster Nacht
Wird ein zweites Leben zur Qual dir gemacht
Der Meister hat`s Recht dir zu bestimmen
So musst du nun deinem Grabe entrinnen
Gehorche dem Meister hier auf Erden
Bring Tod und Leid und aller verderben"
"Die Inschrift auf der alten Kirchenglocke", schoss es ihm durch den Kopf. "Was sagt Ihr?" der Alte horchte auf. "Wo ist diese Kirche?" "Nur noch der Turm", erwiederte Frank nachdenklich. "Im Sensenmoor stand einst eine Kirche doch jetzt steht nur noch der Glockentorm. Eine Kopie der alten Glocke steht auf dem Gottesacker im Dorf." "Wo steht dieser Turm?" Der Alte klang beinahe euphorisch und doch auch zornig. "Mitten im Sensenmoor auf einer kleinen Insel. Doch sagt man, dort würden nun Geister und Dämonen hausen." "Bringt mich dort hin", befahl der Alte mit erschreckend fester Stimme. Frank schritt voran und nach einem kurzen Marsch kam der Turm in Sicht.
Die kleine Insel war taghell. Unzählige Lichter umtanzten den Turm und ließen das Moor ringsum noch finsterer erscheinen. Es schien fast, als würde der Turm in Flammen stehen. Er war aus großen Feldsteinen erbaut und mit schwarzem Schiefer bedeckt worden. Unterhalb des Daches lagen vier Fenster. Eines in jede Himmelsrichtung. Der einst gepflasterte Pfad zur Kirche war mit den Jahren immer mehr im Moor versunken und nur einzelne Steine ragten noch aus dem Wasser empor. Über die Steine und einzelne kleine Grasfelder gelangten Frank und der Alte zum Turm. Als sie jedoch die Insel betraten, flohen die Irrlichter in die Turmspitze, sodass der er nun mehr einem Leuchturm glich. Ringsum ertönten plötzlich Klänge und Geräusche, wie sie Frank noch nie vernommen hatte. Er wollte sich umsehen, doch wie aus dem Nichts traf ihn etwas am Bein, dass er stürzte.
Im Schein des Ostfensters erhoben sich zwei mächtige Schatten. Hinter ihnen stand der Alte und rief Zeile um Zeile des Verses aus, welcher auf der Glocke und im Brief standen. Mit jedem Wort wurden die Schatten klarer, ihr Ursprung erkennbarer, bis zwei Jungen, der eine mit einem Schwert, der andere mit einer Axt, vor Frank standen. "Nekromant!", rief Frank dem Alten entgegen. Der lachte hönisch auf. "Hier nun der Lohn für Eure Hilfe. Was haltet Ihr vom ewigen Leben?" Wieder schall sein Lachen durch die Nacht. Mit starrem Blick bewegten sich die Burschen träge aber bestimmt auf Frank zu. Sie waren schon fast bei ihm. Wie von Geisterhand schnellte Frank voran und blieb zwischen ihnen stehen. Ohne zu zögern holten Sie aus und schlugen zu. Frank ließ sich fallen und die Axt versank im Schädel des einen wärend das Schwert dem anderen den Arm zerschlug und dann zu Boden fiel. Frank ergriff das Schwert und rollte sich zur Seite. Dabei hieb er auf die Beine des Axtträgers ein und brachte ihn zu fall. Frank wich ein paar Schritte zurück und stand nun zwischen dem Burschen und dem Nekromant. Er behielt die Axt genau im Auge und erkannte somit früh genug die Wurfbewegung mit der die Axt auf ihn zu geschleudert wurde. Doch zur gleichen Zeit entriss ihm der Alte das Schwert und stieß zu. Ein brennend stechender Schmerz durchzog ihm Rücken und Lunge. Er sackte rücklings zusammen und entwich nur knapp der herran surrenden Axt. Frank sah noch, wie der Nekromant direkt hinter ihm zusammen brach und blutüberströmt auf der Erde aufschlug, die Axt quer in der Brust versenkt. Ohne einen Meister war der Bursche zügellos und unhaltbar gefährlich. Mit ausdruckslosen Augen kroch er auf Frank zu.
Unbemerkt war eine Frau vor dem Turm erschienen. Sie beobachtete das Schauspiel des Todes, das sich ihr dort bot und schien sie nicht entsetzt. Beinahe so, als würde sie einem Theaterstück zusehen. Als Frank sie bemerkte versuchte er sich zu drehen. Erst dachte er, der Wahnsinn hätte ihn erfasst, sodass er haluzinierte. Diese weiblicheGestalt konnte nicht wirkich sein. Zum Einen, war es tiefste Nacht und er lag mitten im Sensenmoor und zum Anderen ging von ihr ein wohltuendes, zartes Leuchten aus, das keinen realen Ursprung haben konnte.
Frank war kaum noch bei Sinnen, als der Junge das Schwert wieder aus ihm riss und zum letzten Hieb ansetzte. Er war verloren, so schien ihm. Doch da stoben die Irrlichter aus dem Turm und umkreisten den Burschen. Wie von griechischem Feuer umgeben hob der Bursche ab und verschwandt kurz darauf in den Nebelschwaden. Frank sah ihm entsetzt nach. Er sollte glücklich sein, aber der Schreck saß ihm noch zu tief in den Knochen. Wie steinern lag er da und starrte in den Nebel bis ihn eine Stimme aus seiner Trance riss. “Fürchte dich nicht. Mein Name ist Lillit. Lange Zeit schon lebe ich in diesem Turm. Der Alte dort ist Malloch, ein Nekromant der mich meiner Mächte berauben wollte. Er hat dich getäuscht.” Trotz seiner Schmerzen sah Frank zu der Frau hinauf. Ihr jugendliches Gesicht war wunderschön, aber ihre Augenumfing ein zarter grauer Schleier. Ihre Stimme klang dünn und doch warm und vertraut. Gleich dem alten Mütterchen, das den Kindern des Dorfes kandierte Äpfel schenkte, wenn sie vom Schlittschufahren Heim gingen. “Wer bist du?”, flüsterte Frank gequält und versuchte sich auf zu richten. “Bleib liegen und entspann dich. Gleich geht es dir besser.” Er schloss die Augen und spürte eine Hand auf seiner Stirn. Schon durchdrang ihn das seltsame Gefühl wieder, doch diesmal hinterließ es eine warme Leichtigkeit in ihm. Als er aufblickte sah er in zwei weiße Augen voller Güte und er verstand. “Die Augen sind der Spiegel der Seele.” “Für wahr!” antwortete Lillit und lächelte. “Malloch war wirklich kaum älter als ich, und du bist...” “...713 Jahre alt”, unterbrach ihn Lillit. Dann schloss sie die Augen und fiel in seine Arme. Frank trug sie zurück zum Turm, setzte sich und legt ihren Kopf in seinen Schoß. Bevor Lillit einschlief, sagte sie noch:
“Die Finsternis kann nur zerstören, doch das Licht...” “...lebt!”
gez.: Frank Apokal